Gegen Notverordnung und Krieg
Vor hundert Jahren: das Attentat
Am 21. Oktober 1916 richtete der sozialdemokratische Politiker Dr. Fritz Adler den österreichischen Ministerpräsidenten und Kriegsverbrecher Graf Stürgkh im Hotel Meissl & Schadn durch drei Revolverschüsse hin.
Er tat dies aus Protest gegen den Krieg, ebenso gegen die Notverordnungen, mit denen seit der Ausschaltung des Parlaments im März 1914 regiert wurde, aber auch aus Abscheu gegen die opportunistische Politik der sozialdemokratischen Parteiführung, die den Krieg unterstützte.
Graf Stürgkh war als Person ganz unbedeutend, ein kleiner Schreibtischtäter, nicht wichtiger als all die Sobotzile unserer Zeit. Aber für die Gräuel des Ersten Weltkrieges trug er als Ministerpräsident die uneingeschränkte politische und daher auch persönliche Verantwortung.
Er hatte den Angriff auf Serbien gutgeheißen und das Ultimatum mit verschuldet, das den Ersten Weltkrieg auslöste und Millionen Tote zur Folge hatte. Er war schuldig an diesem Massenmord im selben Maß wie alle Regierenden der damals kriegführenden Staaten: also voll und ganz.
Und er war, wie Otto Bauer zum zehnten Jahrestag des Attentats feststellte, ein „Todfeind der Demokratie“. Er hatte schon vor Kriegsbeginn, im März 1914, den Reichsrat (das Parlament) auf unbestimmte Zeit „vertagt“, seine Wiedereinberufung verhindert und seither mit Notverordnungen regiert.
Die Möglichkeit dazu gab ihm der § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung aus dem Jahre 1867, der „Diktaturparagraph“, wie ihn der liberale Rechtsprofessor Joseph Redlich nannte.
Die Notverordnungen, die Stürgkh und sein Justizminister Hochenburger sodann am 25. Juli 1914, unmittelbar vor Kriegsbeginn, in einem dicken, offenbar von langer Hand vorbereiteten Paket, auf den Tisch legten, suspendierten das Recht der Freiheit der Person sowie das Versammlungs- und Vereinsrecht.
Aufgehoben wurde das Briefgeheimnis, die Unverletzlichkeit des Hausrechts und die Rede- und Pressefreiheit. Die Geschworenengerichte wurden abgeschafft und Zivilpersonen (insbesondere alle politischen Delikte!) der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Unzählige Menschen fielen dem Terror der Militärjustiz zum Opfer.
Der Krieg war seit Jahren geplant gewesen. Niemand war schlafwandlerisch hinein geschlittert, wie manche uns heute weismachen wollen. Die Deutsche Bank bereitete ihr „Mitteleuropäisches Reich von Hamburg bis Basra“ vor; Österreich wollte Serbien erdrosseln. Die Motive der gegnerischen Staaten und Konzerne waren um nichts besser. Wenn der Krieg immer wieder verschoben worden war, schrieb Rosa Luxemburg in der „Junius-Broschüre“, „so nur deshalb, weil eine der beteiligten Seiten mit den militärischen Vorbereitungen noch nicht fertig war.“
Der Anlaß war dann beliebig gewesen; es hätte auch irgendein anderer sein können. Die ebenfalls seit langem vorbereiteten Notverordnungen brauchte man dann nur mehr aus der Schublade zu ziehen.
Daß der Krieg kommen würde, wenn man nichts dagegen tat, war auch den Arbeiterparteien stets klar gewesen. Seit Jahren hatten internationale Sozialistenkongresse davor gewarnt und über Kampfmaßnahmen zu seiner Verhinderung beraten.
So hatte Victor Adler, der Führer der österreichischen Sozialdemokraten, Fritz Adlers Vater, auf dem internationalen Kongreß in Basel 1912 dazu aufgerufen, es solle „ein jeder in seinem Lande tun, was er kann, durch die Formen und Mittel, die wir haben, uns entgegenzustemmen dem Verbrechen des Krieges.“
Schöne Worte. Als der Krieg begann, kapitulierten die sozialdemokratischen Parteiführungen, entgegen allen internationalen Beschlüssen der vergangenen Jahre, in Österreich ebenso wie in den anderen kriegführenden Ländern. Sie verrieten alle Grundsätze, für die die Internationale angetreten war.
In der „Arbeiter-Zeitung“, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, erschien ein widerlicher Jubelartikel: „Der Tag der deutschen Nation“. Wir hoffen, stand darin, daß „die eisernen Würfel siegreich fallen werden für die heilige Sache des deutschen Volkes“. Jetzt „tritt die Sozialdemokratie schützend vor die Heimat hin, und die ‚vaterlandslosen Gesellen‘, die ‚rote Rotte‘ weiht dem Staat Gut und Blut der arbeitenden Massen“.
Vergebens versuchte Fritz Adler zwei Jahre lang, legalen Widerstand innerhalb der Partei aufzubauen. Fallen gelassen und verhöhnt von den eigenen Genossen, zog er – bereit, auch sein eigenes Leben zu opfern – die einzig mögliche Konsequenz.
Er hatte eine Weile darüber nachgedacht, welche der im Grunde austauschbaren Symbolgestalten des Systems er zur Zielscheibe wählen sollte. Es wäre auch der Justizminister in Frage gekommen, ebenso ein leitender Beamter, ein Zensor zum Beispiel.
Im Prozeß führte er später aus, „daß es überhaupt keine rechte Persönlichkeit in Österreich gab, die den Wuchs hatte, ihm als Objekt zu dienen“. Im gleichen Sinne kommentierte dann auch Karl Kraus: „Es gibt keine Armbrust und keinen Tyrannen; es gibt Technik und Bürokraten. Es gibt nur den Knopf, auf den das Plutokratische drückt. Aber da ist kein verantwortliches Gesicht“.
Dann aber hatte Stürgkh eine von gut bürgerlichen Professoren geplante Versammlung, die die Wiedereinberufung des Parlaments fordern wollten, verboten, ja sogar die Berichterstattung über dieses Verbot untersagt – und sich damit selbst als „verantwortliches Gesicht“ geoutet. Und so sein eigenes Todesurteil gefällt.
Die sozialdemokratische Parteispitze distanzierte sich hysterisch und versuchte, Fritz Adler für verrückt zu erklären. Er hatte zunächst damit zu tun, seine Zurechnungsfähigkeit zu beweisen, die sein eigener (von der Partei beauftragter) Verteidiger in Frage zu stellen versuchte.
Der Prozeß am 18. und 19. Mai 1917 fand vor einem Ausnahmegericht statt, weil die Schwurgerichte durch die Notverordnung vom 25. Juli 1914 beseitigt worden waren.
Die politische Lage hatte sich geändert seither. Im Februar 1917 hatte die russische Revolution begonnen. In Deutschland war es zu Streiks in Munitionsfabriken gekommen. Auch in Österreich war die Linke in der Sozialdemokratie, nicht zuletzt dank Adlers Attentat, stärker geworden. Und selbst in der politischen Elite hielt man immer mehr Abstand vom „System Stürgkh“. Immerhin war auch der Reichsrat für 30. Mai 1917 wieder einberufen worden.
Den Prozeß hatte Fritz Adler, wie er selber schrieb, als „Bühnenstück“ konzipiert. Und angesichts der geänderten Lage hinderte man ihn auch nicht daran. Seine Redezeit war unbeschränkt, die Berichterstattung der Zeitungen am ersten Prozeßtag ebenso; Zensurversuche am zweiten Tag kamen zu spät… Der Prozeß wurde zu seiner Tribüne, das öffentliche Echo war phänomenal.
Seinen Richtern erklärte er gleich eingangs, daß er in ihnen „keinen Gerichtshof erblicke, sondern daß Sie für mich sechs Herren sind, die sich entschlossen haben, sich die Autorität anzumaßen, ein Verfahren gegen mich durchzuführen, das mit meinem Tode enden wird“. Er wolle ihnen „von vornherein erklären, daß ich in Ihnen nicht sehe ein Organ des Gesetzes, sondern nur das Organ einer verbrecherischen Regierung.“
Es war einer der wenigen Augenblicke während seiner Rede, wo der Vorsitzende ihn zur Ordnung rief.
Seine Tat (die er als „Demonstration“ bezeichnete) rechtfertigte Adler mit den Worten: „Ich bin schuldig in demselben Maße wie jeder Offizier, der im Kriege getötet oder Auftrag zum Töten gegeben hat, um nichts weniger, aber auch um nichts mehr.“
Er berief sich auf das Hainfelder Programm der österreichischen Sozialdemokratie (1888/89), in dem festgeschrieben stand, die Partei werde sich zur Verwirklichung ihrer Ziele „aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewußtsein des Volkes entsprechenden Mittel“ bedienen.
Es war dies die Kompromißformel gewesen, unter der sein Vater Victor Adler die gemäßigten Sozialdemokratien und die „Radikalen“ vereinigt hatte.
Er betonte, die Partei habe auch in früheren Zeiten „die Methode der individuellen Bedrohung einzelner Behörden mit sehr großem Erfolg angewendet. Es wurden immer wieder einzelne Organe der Regierung individuell bloßgestellt und bedroht. Die ‚Gleichheit’, die Vorläuferin der ‚Arbeiter-Zeitung‘, hatte eine eigene Rubrik zu diesem Zweck, die hieß: ‚Wie man uns behandelt‘. In dieser Rubrik wurden Erkenntnisse von Bezirkshauptleuten an den Pranger gestellt, unter Anführung von Namen und Verantwortlichmachung nicht des Systems, sondern des Individuums. Das war eine immer gehandhabte Methode der Partei.“
Zur Gewalt berechtigt sei, „wenn das Gesetz zertreten ist, ein jeder Staatsbürger, jeder ist berechtigt, sich sein Recht selbst zu verschaffen auf Grund des Notstandes, den die Regierung verschuldet hat.“
Adler prangerte die sozialdemokratische Parteispitze an, besonders Karl Renner, den „Lueger’schen Geist der biederen Verlogenheit in der Sozialdemokratie“, der allen Ernstes im Stürgkh’schen Kriegsabsolutismus wegen seiner guten Organisation gar so etwas wie den künftigen Sozialismus vorweggenommen sah. Eine Revolution, so Adler, sei in Österreich immer nur gegen den Parteivorstand möglich.
Daß er nach dem „natürlichen Rechtsbewußtsein“ so handeln durfte, würden heute, zum Zeitpunkt des Prozesses, wohl nur mehr wenige Leute bezweifeln; zu prüfen sei daher lediglich die Frage der Zweckdienlichkeit.
Er stellte klar, er habe nicht die „kindische Vorstellung“ gehabt, durch seine Tat die Revolution auszulösen; was er wollte, sei vielmehr, „die psychologische Voraussetzung künftiger Massenaktionen in Österreich zu schaffen“ und „dem revolutionären Geist in Österreich wieder eine Stätte zu schaffen“.
Dieses Ziel hatte Adler erreicht, sodaß die Frage der Zweckdienlichkeit im Licht der weiteren Ereignisse zu bejahen ist. Mit seiner brillanten Verteidigungsrede machte er den Prozeß zum Tribunal gegen das herrschende System. Er trug dazu bei, die Arbeiterschaft aufzurütteln, und bereitete so den Weg zu den Aktionen, die im folgenden Jahr das Regime erschütterten, den Jännerstreiks 1918 und schließlich der Novemberrevolution.
Adler wurde zum Tode verurteilt, jedoch vom neuen Kaiser Karl, dem letzten der Habsburgermonarchie, zu 18 Jahren Haft begnadigt und schließlich bei Beginn der Revolution im November 1918 aus der Haft entlassen. Er war dann Vorsitzender des österreichischen Arbeiterrates und später Generalsekretär der Sozialistischen Internationale.
Er lehnte er es ab, die Revolution von 1918 in eine sozialistische Revolution überzuführen; er war (wie Otto Bauer überzeugend darlegte) der Meinung, daß ein solcher Versuch durch eine Konterrevolution der agrarisch-schwarzen Bundesländer und eine Intervention der Westmächte in Blut erstickt werden würde. Er lehnte es daher auch ab, den Vorsitz der 1918 gegründeten KPÖ zu übernehmen, und hielt an der Einheit der Arbeiterbewegung in der Sozialdemokratie fest.
Dafür hatte er gute Gründe, aber er zementierte damit die Einheit um jeden Preis für Jahrzehnte fest, sodaß sich keine starke Kraft links der SPÖ entwickeln konnte. Seine Verdienste um die Beendigung des Krieges und den Sturz der Monarchie bleiben davon unberührt.
Michael Genner
Obmann von Asyl in Not
21. Oktober 2016
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Das Buch zum Attentat:
Friedrich Adler, Vor dem Ausnahmegericht. Das Attentat gegen den Ersten Weltkrieg
Herausgegeben von Michaela Maier und Georg Spitaler
Promedia, Wien 2016