Vor neunzig Jahren

Am 15. Juli 1927 gingen tausende Menschen in Wien auf die Straße, um gegen den Freispruch faschistischer Mörder zu protestieren. Im burgenländischen Schattendorf hatten „Frontkämpfer“ einen Invaliden und ein Kind erschossen. Sie blieben ungestraft. Es war kein Einzelfall.

Immer wieder in den Jahren vorher hatten faschistische Heimwehren unter dem Schutz der Staatsgewalt Terror geübt. Der Freispruch der Mörder von Schattendorf, begleitet vom Hohngeschrei bürgerlicher Medien, war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.
 
Auch diesmal ging die Gewalt vom Staat aus. Berittene Polizei griff die Demonstration an. Die Menschen setzten zur Wehr, errichteten Barrikaden, stürmten ein Wachzimmer und drangen in den Justizpalast ein, das Symbol der bürgerlichen Klassenjustiz. Sie begannen, die Akten zu verbrennen. Da schoß die Polizei. Der Justizpalast ging in Flammen auf.
 
Der Schutzbund, der bewaffnete Arm der Arbeiterschaft, viel zu spät an  diesem Tag mobilisiert und nur mit Stöcken ausgerüstet, stand waffenlos und ohnmächtig dazwischen. Kurz vorher war sein größtes Waffendepot im Wiener Arsenal von der Polizei beschlagnahmt worden; die sozialdemokratische Parteiführung hatte keinen Widerstand geleistet.
 
Aber es hätte im Juli noch genügend andere Depots gegeben. Verzweifelte Schutzbündler, mit Tränen in den Augen, flehten ihre Chefs um Waffen an. Vergebens. Sie mußten tatenlos zusehen, wie die Menschen starben. 89 Tote, hunderte Verletzte – vor allem aber war das Vertrauen in die politische und militärische Stärke der Arbeiterschaft zutiefst erschüttert. Es war der Anfang vom Untergang.
 
Die Führung der Sozialdemokratie hat im Juli 1927 völlig versagt. Als einziger im Parteivorstand trat Wilhelm Ellenbogen, ein alter, aus ganzem Herzen friedliebender Arzt, dafür ein, „den Kampf, der, wenn auch ohne unsere Absicht, nun einmal begonnen hat, bis zur letzten Konsequenz durchzufechten“, also „an Stelle der planlosen, zufälligen Zusammenstöße zwischen Polizei und Arbeiterschaft einen Kampf um die endgültige Entscheidung herbeizuführen.“
 
Das Massaker am 15. Juli war kein Zufall. Es war Teil einer zielbewußten Strategie des christlichsozialen Bundeskanzlers Ignaz Seipel, des „Prälaten ohne Milde“. Er wollte den Staatsstreich, er wollte den „Revolutionsschutt“ wegräumen, er wollte die religiös-faschistische Diktatur.
 
Zu Lebzeiten erreicht hat er dieses Ziel nicht. Noch auf dem Totenbett soll er gerufen haben: „Man muß schießen, schießen, schießen.“ Andere vollendeten sein Werk. Dollfuß, Schuschnigg… Nach ihnen kam Hitler.
 
Aber das ist doch so lange her… Warum reden wir heute noch davon? Weil die Geschichte sich ständig wiederholt. Weil die Wurzeln des Übels nicht abgeschlagen sind. Weil auch heute, wie in der Ersten Republik, der Staatsapparat durchsetzt ist von Feinden der Demokratie.
 
Mit Recht hat Bruno Kreisky (wie sein Sohn Peter berichtete) gegen Ende seines Lebens davor gewarnt, „daß es parallel zu den Zwanzigerjahren schnell zu einer Allianz zwischen großen Teilen des Sicherheitsapparates und politisch reaktionären Kräften kommen könne.“
 
Auch diesmal werden wir nur eine Minderheit sein, die sich dem Unheil entgegenstellt. Also seien wir vorbereitet, moralisch und organisatorisch. Der Ausgang bleibt stets ungewiß.
 
Michael Genner
Obmann von Asyl in Not
15. Juli 2017

 
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Ilona Duczynska, „Der demokratische Bolschewik“, Paul List Verlag München 1975, S. 27, S. 110 f.
Peter Kreisky, “Kreisky und Kreisky”, in: Franz Richard Reiter, “Wer war Bruno Kreisky?”, Wien 2000, S. 149
http://derstandard.at/2000061314173/Justizpalastbrand-Protokoll-einer-Katastrophe

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