Vor fünfzig Jahren, am 11. Juli 1962, ist Laurenz Genner gestorben. Er war Widerstandskämpfer und einer der Gründer der Zweiten Republik. Und er war mein Vater. Weder das offizielle Österreich noch die beiden Arbeiterparteien, denen er vorübergehend angehörte, gedenken seiner. So will ich es tun.
Er war aus einer Waldviertler Bauernfamilie, geboren 1894; seine Eltern hatten abgewirtschaftet, der Hof war verkauft, er litt an Tuberkulose, zum Studieren gab es kein Geld. Er erkannte früh, daß nur politischer Kampf etwas ändern konnte, und entschloß sich, Sozialist zu werden.
Er ging, ohne irgendjemanden in der großen Stadt zu kennen, nach Wien und fragte sich zu Viktor Adler durch, dessen Namen er vom Zeitunglesen kannte. Viktor Adler nahm ihn in die Sozialdemokratische Partei und in die Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ auf.
In der Ersten Republik arbeitete Laurenz Genner eng mit Otto Bauer zusammen. Gemeinsam schufen sie das Sozialdemokratische Agrarprogramm (1925), das eine Bodenreform, die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Bildung bäuerlicher Genossenschaften vorsah.
Laurenz Genner wartete nicht, bis die Sozialdemokratie die Mehrheit hatte. In seiner Waldviertler Heimat gründete er „rote Bauerngruppen“ und Konsumgenossenschaften, mit deren Hilfe die Bauern ihre Produkte direkt ins „Rote Wien“ lieferten.
So hoffte er, die Kluft zwischen Stadt und Land zu überwinden. Heimwehrlern und Nazis lieferte er mit seinen Schutzbundgruppen erbitterte, stets siegreiche Saalschlachten; er wurde der „ungekrönte König des Waldviertels“ genannt. 1932 wurde er Abgeordneter zum Nationalrat und Agrarsprecher der Sozialdemokratie.
1933 brach alles zusammen, Otto Bauer kapitulierte kampflos vor der austrofaschistischen Diktatur. 1934, als der Aufstand dann doch kam, war es zu spät. Der Generalstreik schlug fehl, der Widerstand des Schutzbundes wurde vom Bundesheer gebrochen. Laurenz Genner kam ins Gefängnis, die Genossenschaften im Waldviertel wurden aufgelöst, sein Lebenswerk war zerstört. 1936 unternahm er einen Selbstmordversuch.
Er arbeitete trotzdem, schwer krank, meist arbeits-, öfters obdachlos, für die Revolutionären Sozialisten (RS), organisierte Schmuggelwege aus der Tschechoslowakei, um Waffen und die illegale „Arbeiterzeitung“ nach Österreich zu transportieren – bis im März 1938 die Partei zum zweiten Mal den Kampf und den Geist aufgab.
Karl Renner stimmte „freudig mit ja“. Laurenz Genner wurde damals Kommunist. Er gehörte nach dem Anschluß der ersten, von der Gestapo rasch zerschlagenen Leitung der illegalen KPÖ an und versuchte, möglichst viele Revolutionäre Sozialisten mitzunehmen. Ende 1938 wegen „Beihilfe zum Hochverrat“ verhaftet, überstand er elf Tage und Nächte Gestapo-Verhör, ohne zu gestehen.
1940 aus der Haft entlassen, nahm er seine illegale Arbeit wieder auf. 1942 gab er die Zeitung „Rote Front“ heraus, die die illegalen Betriebsgruppen in Wien-Nord und die Sabotage der Rüstungsproduktion koordinierte. Diese Betriebsgruppen waren von der Gestapo infiltriert; eine seiner Hauptaufgaben war es, diese Spitzeln zu eliminieren. Ein alter Mitkämpfer sagte zu mir: „Der Vater hat einen harten Griff gehabt.“
Er lebte in dieser Zeit, ungeachtet der Gefahr, unter seinem richtigen Namen in Wien. Denn seine damalige Frau, die Psychoanalytikern Thea Erdheim, war Halbjüdin und er als „Arier“ war ihr einziger Schutz.
1944, nach dem 20. Juli, neuerlich verhaftet, versuchte er sich zu vergiften, überlebte jedoch und erwachte aus dem Koma, als er die Stimme eines totgeglaubten Genossen hörte. Die Gestapo wußte damals noch immer nicht, was er tat…
1945, im Jahr der Befreiung, gehörte er als Unterstaatssekretär für Landwirtschaft der Provisorischen Regierung an. Danach war er bis 1954 Landesrat und Landtagsabgeordneter der KPÖ in Niederösterreich.
Er kämpfte noch immer für seinen Lebenstraum, die Bodenreform, organisierte Landbesetzungen: 1947 in Straßhof, 1949 in Sommerein. Die Bauern gründeten Genossenschaften; am 1. Mai 1949 fuhr mein Vater mit einer Erntemaschine, die die Arbeiter einer Fabrik in Stadlau in Sonderschichten als Geschenk für die Bauern produziert hatten, mit einer roten Fahne drauf nach Sommerein…
Weder die (1945 aus Moskau eingeflogene) KP-Spitze noch die Russen waren darüber glücklich, Österreich sollte laut Jalta-Vertrag neutral werden, revolutionäre Veränderungen waren unerwünscht: „Keine Abenteuer, Genossen“ lautete daher die Linie der KPÖ…
Da mein Vater weitermachte, hatte er zwei Autounfälle, die vielleicht keine waren; als er dann immer noch lebte, wurde er 1954 bei der Landtagswahl nur mehr an unwählbarer Stelle aufgestellt und in Pension geschickt.
1956 marschierten die Russen in Ungarn ein. Imre Nagy, der kommunistische Ministerpräsident, wurde gehenkt. Er hatte 1945 als Landwirtschaftsminister genau die Bodenreform gemacht, die mein Vater für Österreich wollte. Nach wenigen Jahren, bei der „Kollektivierung der Landwirtschaft“, nahm man den Bauern das Land, das Nagy ihnen gegeben hatte, wieder weg…
Auch dagegen richtete sich der Aufstand, den die Russen im Blut erstickten. Anfang 1957 trat mein Vater aus der KPÖ aus. Er starb 1962. Ich war damals vierzehn und beschloß, weiterzumachen.
Wäre Ostösterreich kommunistisch geworden, wäre hier das gleiche geschehen. Mein Vater wäre Landwirtschaftsminister geworden, hätte die Gutsbesitzer enteignet und das Land den Bauern gegeben. Nach ein paar Jahren hätte man es ihnen wieder weggenommen. Dagegen hätte er Widerstand geleistet.
Also hätte man ihn gehenkt. Meine Mutter, eine Ärztin, hätte Berufsverbot bekommen. Ich hätte nicht studieren dürfen als Sohn eines „Konterrevolutionärs“. (Na ja, viel studiert habe ich auch so nicht, offen gesagt). Ich wäre Hilfsarbeiter geworden in einer Kolchose, oder Straßenkehrer. Aber ich hätte viel gelesen und immer in mir die Sehnsucht nach Rache gehegt und gepflegt.
1989 hätte ich dann teilgenommen an einer richtigen Revolution. Wir hätten das stalinistische System hinweggefegt… Und glaubt mir: Ich hätte mich nicht zufrieden gegeben mit diesem Erfolg.
Ich hätte mich nicht damit abgefunden, daß an die Stelle der gestürzten Bürokraten die reichen Spekulanten aus dem Westen treten. Gegen sie wäre ich von neuem in den Untergrund gegangen. Und gegen die Nazis und Rassisten, die aus ihren Löchern kriechen. Und für all die verratenen Hoffnungen von damals und jetzt. Ich stünde genau dort, wo ich heute stehe…
Michael Genner
Obmann von Asyl in Not
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