Früh übt sich, wer Flüchtling werden will
Afghanische Kinder verhindern ihre Abschiebung
Ein Bericht von Judith Ruderstaller
Leiterin der Rechtsabteilung von Asyl in Not
Bereits seit August dieses Jahres kenne ich Familie Y aus Afghanistan: Sie befanden sich damals mitten in einem Dublinverfahren mit Bulgarien. Familie Y – das ist Mutter Jamila (Name geändert), die mit ihren fünf Kindern im Alter von acht bis fünf Jahren (davon jeweils zwei Zwillingspaare) nach Österreich gekommen ist, und Farshad, der 15jährige Sohn, der schon seit 2009 in Österreich lebt.
Die Familie wurde durch ihre – letztlich auch Flucht auslösende – Familiengeschichte getrennt. Mitte 2009 fand sich Farshad in Österreich wieder, seine Mutter mit den jüngeren Geschwistern, nachdem auch ihr die Flucht gelungen war, Mitte 2010 in Bulgarien. Im Frühjahr 2011 fanden sie einander über Facebook auf Umwegen wieder: Für die Mutter ein klarer Fall – sie machte sich gleich auf den Weg nach Österreich zu ihrem Sohn. Als Analphabetin war es für sie der nächste logische Schritt der Familienzusammenführung eine unmittelbare örtliche Annäherung.
Das Bundesasylamt wie auch der Asylgerichtshof sahen das in weiterer Folge anders: Jamila hätte absichtlich in Kauf genommen, von Farshad getrennt zu werden, wolle absichtlich das Dublin-System unterlaufen und solle ein Familienzusammenführungsverfahren mit Farshad in Bulgarien anstrengen.
Wir waren dagegen – vor allem, weil uns das rechtswidrig erscheint. Mit juristischen Details möchte ich hier, besonders wegen der Komplexität des Verfahrens und des Zusammenwirkens von Dublin-Verordnung und Asylgesetz, niemanden langweilen oder Verwirrung stiften, stehe aber für Rückfragen per E-Mail gerne zur Verfügung. Also konnte schließlich über das Netzwerk Asylanwalt und die Kanzlei von Nadja Lorenz am 28.11.2011 eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof eingebracht werden.
Unglücklicherweise wurde bereits am 29.11.2011 um 06.00 Uhr in der Früh die Familie aus der Pension in Graz abgeholt und nach Wien ins Familienschubhaftzentrum im ehemaligen Integrationshaus in der Zinnergasse gebracht. Ich selbst habe am Vormittag davon erfahren und habe mich noch geschwinde an unsere bulgarische Partnerorganisation gewandt und sie um die „Nachbetreuung“ der Familie gebeten: also dafür zu sorgen dass sie nicht in Haft kommen und dass sie auch sonst versorgt sind. Am Nachmittag kämpfte ich noch am Asylgerichtshof an der Seite eines Tschetschenen um sein Aufenthaltsrecht.
Spät abends, gegen 22.00 Uhr, entstand über Umwege schließlich Kontakt mit Herrn W aus der Steiermark, der ebenfalls die Familie unterstützen wollte und sich kurzerhand dazu bereit erklärte, Jamila und den Kindern bei den ersten Wegen und der Kontaktaufnahme mit der bulgarischen Partnerorganisation Hilfe zu leisten. Er kaufte sich ein Ticket für denselben Flug, um sie zu begleiten, nahm Farshad auch mit nach Schwechat, wo wir uns am nächsten Tag im Morgengrauen trafen.
Nach langer banger Wartezeit erfuhren Farshad und ich, dass die Abschiebung gescheitert sei: W hatte gefragt, wo eigentlich die afghanische Familie sei, wegen der er eigentlich an Bord des Flugzeuges sei und ihm wurde mitgeteilt, dass die Familie nicht mitfliegen würde. Daraufhin verließ auch W noch kurzfristig das Flugzeug und kehrte zu uns zurück.
Viel später haben wir erfahren, dass die Kinder offenbar auch gegen ihre Abschiebung waren und, statt ins Flugzeug einzusteigen, in alle Richtungen davonliefen: eines der Kinder fiel dabei auch unglücklich und schlug sich die Nase an.
Schon wenig später rief uns Jamila an: sie wäre in einem Auto, wisse aber nicht wohin. Wir rieten ihr, alles im Auge zu behalten und sich bei uns zu melden, sobald sie wisse wo sie wäre. Nur wenige Sekunden später meinte sie, sie würde jetzt mit dem Bus abgeschoben werden. Auf die Frage wie sie darauf komme, meinte sie, sie könne das ja sehen. Tatsächlich wurde sie einfach mitsamt dem Gepäck am Busbahnhof vor dem Flughafen abgesetzt, wo wir sie auch wenige Minuten später trafen.
Die Geschwister von Farshad liefen ihm schon von weitem entgegen und fielen sich überglücklich in die Arme, Mutter und Sohn zündeten sich nach ihrer Wiedervereinigung erst einmal eine Zigarette an, während wir die Weiterfahrt Richtung Wien organisierten.
Eine Unterkunft zu finden gestaltete sich schwieriger, aber schließlich konnten wir sie am Abend in einem Heim der Caritas in Wien unterbringen.
Wie nun alles weitergehen wird, ist noch unsicher, aber wir hoffen natürlich noch (und nicht ganz unbegründet) dass die Familie letzten Endes mit einem sicheren Aufenthaltsrecht in Österreich vereint bleibt.
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Wir werden weiter berichten.
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