“Syrien ist frei” – aber von wem?
Analysen und Sichtwechsel von Kübra Atasoy
“Syrien ist frei!”
Das liest man allerorts und während wir uns über den Fall des Diktators Assad sehr freuen, so müssen wir uns doch darüber wundern, wer hier alles als Befreier gefeiert wird und wer eben nicht.
Auf den syrischen Freudendemos der vergangenen Tage sieht man hauptsächlich die syrische Fahne mit drei Sternen, nicht zwei: Das Zeichen der Freien Syrischen Armee bzw. jetzt SNA, die als Oppositionelle betitelt und bejubelt werden, aber diese Opposition mit Waffengewalt eher im Kampf gegen die Kurd:innen ausgelebt haben als gegen Assad.
Dann haben wir da Mohamed al Jolani, dem sein wohlhabendes upperclass Leben in Damaskus wohl zu langweilig wurde und er deshalb seit über einem Jahrzehnt an so gut wieder noch so widerwärtigen Fraktion der Jihadist:innen mitgewirkt hat und jetzt als Anführer und intellektueller Kopf der HTS (Hayat Tahrir Ash-Sham) als Demokrat unter den Islamisten porträtiert wird.
Die Distribution von Raubbeute als staatsmännische Fähigkeit zu verkaufen und sich dem Westen als Reformer zu positionieren, das konnte Jolanis Original schon sehr gut: Ayatollah Khomeini.
Die Taktik zunächst als reformistische Kraft still und heimlich eine brutale islamistische Herrschaft zu etablieren hat mittlerweile Tradition (wir blicken hier nach Afghanistan) und leider sind westliche, ganz besonders deutschsprachige Medien nicht klüger geworden, sondern tragen den nicht gerade originellen Spin leichtgläubig mit.
Beide Fraktionen sind eine veritable Bedrohung für die zahlreichen ethnischen und religiösen Minderheiten (Assyrer:innen, Armenier:innen, Yezid:innen, Tscherkess:innen, Druz:innen, Kurd:innen, Aramäer:innen, etc.) in Syrien, die schon teilweise vor hunderten Jahren vor osmanischen und türkischen Genoziden dort Zuflucht suchten. HTS und SNA sind auch eine veritable Bedrohung für die Rechte von Frauen im ganzen Land.
Und dann gibt es da die SDF, die Syrian Democratic Forces, die unter kurdischer Leitung eine demokratische Verwaltung etabliert haben, die regelmäßig von türkischen Drohnen in Grund und Boden bombardiert werden und seit jeher Angriffen von HTS und SNA ausgesetzt sind, die sich als Söldner für türkisches Geld verdingen.
Die Volksverteidigungseinheiten der YPJ und YPG waren es 2014 übrigens, die verhinderten, dass ganz Syrien den Schlächtern des Islamischen Staats/Daesh in die Hände fiel. Ein Wort des Lobes in Zusammenhang mit dem Sturz Assads wird man vergeblich suchen.
Stattdessen wird den Kurd:innen vorgeworfen, diplomatische Beziehungen zu Assad, den Russen, den USA und Israel aufrechterhalten zu haben.
Diese Vorwürfe brüllen am lautesten aber jene, die stets mit dem größten Abschaum der Region wie den Islamisten und dem größten Kriegstreiber, der Türkei, zusammenarbeiteten.
Hier offenbart sich der all diesen Fraktionen gemeinsame Glaube daran, dass ihre Zugehörigkeit zur Übermenschenkategorie (arabisch, türkisch, möglichst sunnitisch) sie mehr verbindet als demokratische Grundwerte wie Freiheit und Gleichheit je können. Gleichheit mit den zahlreichen prägenden Minderheiten der Region bedeutet für alle diese alten-neuen Player nämlich eines: Statusverlust.
Und bevor sie selbst Assads iranische Supporter bekämpfen, hätte man eher noch ein Jahrzehnt unter seiner Herrschaft verbracht als diesen Statusverlust einzugehen.
So konnten die patriotischen syrischen Löwen erst wieder brüllen, nachdem Israel ihnen den Weg freigebombt hat.
Liebe Leserinnen,
wir gratulieren allen zur Befreiung Syriens von Assad und warnen vor seinen neuen Tyrannen.
Seid wachsam und lasst euch nicht einlullen von schlechten Recherchen.
Eine echte Befreiung muss einen positiven demokratischen Wandel bringen und nicht neue-alte Warlords.
Kübra Atasoy
Asyl in Not
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