Hungerstreik
Herr A. aus Tschetschenien ist mein Klient. Er hat gegen die Russen gekämpft, wurde schwer verletzt, Granatsplitter stecken noch in seinen Beinen. Seinen Bruder hat eine Spezialeinheit verschleppt, gefoltert und umgebracht; A. fand seine Leiche in der Nähe der berüchtigten Militärbasis Chankala.
Auch nach A. fahndete der russische Geheimdienst FSB. Er war untergetaucht; immer wieder durchsuchten Soldaten sein Haus, verhörten und schlugen seine Frau; seine Kinder leiden heute noch an panischer Angst, wenn sie an „zu Hause“ denken. A. und seine Familie flüchteten im Juni 2004 nach Österreich. Ihr Asylantrag wurde zurückgewiesen; zuständig sei die Slowakei. Dies obwohl eine amtsärztliche Mitteilung
vorlag, die den Verdacht auf Traumatisierung nahe legte.
Asyl in Not erhob Berufung, aber der kam keine aufschiebende Wirkung zu. A. konnte jederzeit abgeschoben werden – der Verfassungsgerichtshof hatte Strassers Gesetz noch nicht behoben.
A. wurde zunächst nicht in Schubhaft genommen. Er war durch die Vollmacht geschützt, die er mir (wie viele andere Tschetschenen) erteilt hatte; die Erstaufnahmestelle wusste, daß wir schon einige Fälle willkürlicher Verhaftungen in die Medien gebracht hatten. Man wollte keinen neuen Skandal; also wurde unser Klient im Lager Traiskirchen toleriert.
Bis er – durch das Warten, die Ungewissheit über sein Schicksal, die Sorge um seine Familie zermürbt – die Nerven wegwarf, einen Streit mit „seinem“ Beamten anfing und ihn (weil dieser das Gespräch abbrach und gehen wollte) am Arm packte.
Da wurde er nun doch abgeführt. In der Schubhaft trat er in den Hungerstreik. Als er schwach genug war, setzte man ihn als haftunfähig auf die Straße. Gerade rechtzeitig vor dem Abschiebetermin in die Slowakei.
Es ging ihm ziemlich schlecht. Der Kreislauf war herunter; die Beine, in denen noch Granatsplitter stecken, waren angeschwollen; er konnte kaum gehen. Irgendwie schleppte er sich bis in unser Büro.
Wir versuchten ihn bei der Caritas unterzubringen, die ja eigentlich ein Notquartier für solche Fälle bereit hielt und auch einige unserer „Illegalen“ aufgenommen hatte – nur bei ihm hieß es, es gäbe keinen Platz; er möge zu Bekannten gehen. Vielleicht weil er zu „verhaltensauffällig“ war? In seinem Zustand hätte er aber besondere Betreuung gebraucht.
Unterschlupf fand er schließlich bei anderen Flüchtlingen, die schon anerkannt waren. Dort versteckte er sich – bis die Erstaufnahmestelle Traiskirchen unserer Berufung stattgab und ihren eigenen rechtswidrigen Bescheid (durch „Berufungsvorentscheidung“) behob.
A. wurde mit seiner Familie in Bundesbetreuung genommen und im März 2005 im Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, zu seinen Fluchtgründen befragt; nur ein paar Wochen später erhielten er und seine Angehörigen positive Asylbescheide – sie sind nun als Flüchtlinge anerkannt.
Ein Happy-end – aber fast wäre es schief gegangen. Nur durch Hungerstreik hatte er die drohende Abschiebung in die Slowakei verhindert. In der Slowakei hätte er keine Chance gehabt.
Die Anerkennungsrate liegt dort bei Nullkommajosef; die slowakische Polizei unterhält (noch aus der kommunistischen Zeit) enge Verbindungen zu ihren russischen Kollegen – Herrn A.’s Asylantrag wäre mit Sicherheit abgewiesen worden. Sodann hätte man ihn nach Russland geschickt. Ins Gefängnis, in den Tod. Herr A. ist einer von vielen, die mit guten Gründen in den Hungerstreik treten, um ihr Leben und das ihrer Angehörigen zu retten.