Wir Achtundsechziger, Teil 3
Wir setzen unsere Artikelserie zum Mai ´68 und seinen Folgen fort. Wie bisher, schreibe ich als Beteiligter aus meiner persönlichen Sicht, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität.
Michael Genner, Asyl in Not
SPARTAKUS
Heimkampagne
Von 1969 bis 1972 gehörte ich zu einer Aktionsgruppe, die sich den Problemen der Arbeiterjugend widmete. Kurze Zeit waren wir die „Sektion 6“. eine Jugendsektion der KPÖ, aber in dieser alten, verstaubten, stalinistischen Partei gefiel es uns nicht; wir machten uns unabhängig und nannten uns „SPARTAKUS“.
Wir kämpften gegen die Erziehungsheime, die “Jugend-KZs“, wie wir sie nannten, in denen Prügelstrafen, Einsperren in kahlen Zellen („Steinkorrektion“) und Psychoterror perverser Erzieher an der Tagesordnung waren.
Die Heime waren ein ständiges Druckmittel – nicht nur gegen die “Kriminellen”, sondern gegen alle Jugendlichen, die ein bißchen freier leben wollten. Damals war es möglich, daß ein Lehrling ins Erziehungsheim kam, weil er mehrmals “unbegründet” den Arbeitsplatz wechselte. Dann galt er als „asozial“.
Oder Burschen und Mädchen, die zusammen sein wollten, obwohl ihre Eltern dagegen waren. Die „Fürsorge“ in den Gemeindebauten wachte argwöhnisch darüber, ob ein 16jähriges Mädchen vielleicht schon einen Freund hatte. Dann konnte sie fällig sein. Ayatollah Khomeiny hätte daran seine Freude gehabt.
Eine Umfrage, die wir in Wiens größter Berufsschule (Mollardgasse) machten, ergab, daß die Mehrzahl der befragten Lehrlinge die Erziehungsheime als Hauptproblem angaben. Manche waren schon im Heim gewesen, oder man hatte ihnen damit gedroht, zumindest aber kannten sie andere, die ins Heim gekommen waren. Alle fürchteten sich davor.
Es gab eine Stufenleiter der Heime, vom gewöhnlichen Waisen- oder Lehrlingsheim (dort war es schon arg genug) über das Landeserziehungsheim Eggenburg zur berüchtigten Bundeserziehungsanstalt Kaiser Ebersdorf mit der noch härteren Außenstelle Kirchberg.
Wer flüchtete, kam zur Strafe ins nächst schlimmere Heim. Wer einmal drinnen war, war auf der schiefen Bahn; wer vorher nicht kriminell war, wurde es in dieser Umgebung schnell.
Vielen Jugendlichen halfen wir gegen ihre Eltern, beschützten sie vor der Polizei, verhandelten mit Jugendamt und Bewährungshilfe; Illegale wurden durch unser Eingreifen legalisiert. Prügelerzieher prangerten wir in unseren Flugblättern (Rubrik „Schwein der Woche“) an.
“Romeo und Julia”
Am meisten stolz war ich auf eine Aktion, die ich „Romeo und Julia“ nannte: Franz und Liesl, beide 16 Jahre alt, sie die Tochter eines Kriminalbeamten, Franz war drogenabhängig gewesen, hatte es sich ihretwegen abgewöhnt – aber ihr Vater war strikt gegen diese Beziehung und drohte beiden mit dem Erziehungsheim.
Woraufhin sie untertauchten. Liesls Vater war kein Rechter, kein Nazi, sondern – Kommunist. Was bedeutete das schon! Das Spießertum war in dieser Partei so verbreitet wie überall. Und noch dazu – bei diesem Beruf… „Tochter eines Kollegen entführt!!!“. Sieben Wochen lang versteckten wir das Liebespaar gegen Großeinsätze der gesamten Wiener Polizei.
Ich wechselte oft die Quartiere, in denen wir sie unterbrachten, hängte die Verfolger ab – und verhandelte zugleich mit Liesls Vater, bis er einen Vertrag mit mir unterschrieb: daß sie nicht ins Heim kämen und daß sie zusammenbleiben dürften. Josef Lauscher, Alt-Gemeinderat der KPÖ, leistete mir als Vermittler gute Dienste dabei.
Also fast ein Happy-end. Aber leider – nur fast. Nach einigen Monaten wurde Franz rückfällig. Er nahm wieder Drogen. Liesl trennte sich von ihm. Drogen waren in unserer Gruppe absolut verpönt. Wir wussten, daß die Polizei Drogen in linke Gruppen einschleuste, um sie erst mental kaputt zu machen und sie dann zu kriminalisieren.
Trotzdem war „Romeo und Julia“ ein politischer Erfolg. Andere, ähnliche Aktionen folgten. Unsere Erfolge sprachen sich herum. Die Jugendlichen sahen, daß man sich wehren kann. Und daß es eine Gruppe gab, die auf ihrer Seite stand.
So verlor die Familie, verlor die bürgerliche Moral einen Großteil ihrer Macht. Zumindest in Wien, in den Städten war es so. Am Land hat es länger gedauert. Aber auch dort ist die Entwicklung nicht mehr umkehrbar.
Wir waren unbequem, und wir wurden verfolgt. Mehr davon ein anderes Mal.
Michael Genner
Asyl in Not
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