Als Velly nach Österreich kam, war er nicht älter als 15 Jahre und hatte bereits eine höchst traumatische Kindheit hinter sich.
Aufgewachsen ohne Eltern als Straßenkind in einem Dorf in Nigeria, wurde er als Junge von einer Pflegefamilie aufgenommen. Dort bekam er Unterkunft, Essen und durfte für 5 Jahre die Grundschule besuchen, wofür er der Familie dabei half, Früchte auf dem Markt zu verkaufen und nach den jüngeren Kindern zu schauen.
Das war das einzige Familienleben, das Velly je kannte: Doch es sollte nicht anhalten. Aus Geldnot setzte ihn seine Pflegefamilie zurück auf die Straße. Erneut war er ganz auf sich alleine gestellt: Ohne Netzwerk, ohne Schlafplatz und ohne Schutz.
“Wenn ein Kind sich um sich selbst kümmern muss, und das nicht schafft, dann wird es sterben.”
Velly schlief meist in der Nähe vom Markt und nahm wo es ging kleine Jobs an, für die er kaum Geld bekam. Ohne Schutz war er ein leichtes Opfer für die Area Boys – die verbreiteten Straßengangs Nigerias – Gewalt gehörte zum Alltag dieses Kindes.
Als er Mercy* kennenlernte, der ihm von einem besseren Leben weit weg von den Straßen Nigerias erzählte, fasste er das erste Mal seit langer Zeit wieder Hoffnung. Mercy berichtete von einem Leben in Libyen mit der Möglichkeit auf bezahlte Arbeit. Sie nehmen den Bus und fahren in den Norden Nigerias, von wo sie ein Mann mit dem Motorrad über die Grenze bringt.
Wie tausend Andere jedes Jahr unternahmen auch Velly und Mercy die Reise durch die Wüste, in der Hoffnung, in Libyen für ein wenig Geld Arbeit und Unterkunft zu finden.
Ihre Route führte durch Subha und Sawija, mitten durch ein Gebiet, in dem sich Milizen gegenseitig bekämpfen. Als sie sich in einem Quartier versteckt hielten und Mercy eines Tages aufbrach, um ihnen beiden Essen zu besorgen, kam er nicht mehr zurück.
Bis heute weiß Velly nicht, was mit seinem Freund geschehen ist.
Nun wieder auf sich alleine gestellt geriet Velly in die Gefangenschaft der kämpfenden Milizen. Nur, wenn seine Familie Lösegeld für seine Freiheit zahlen, würden sie ihn wieder freilassen. Velly ist aber Straßenkind. Es gab niemanden, der bereit war, für seine Freiheit Geld zu zahlen.
Er blieb in Gefangenschaft bis er eines Tages von der Miliz weiterverkauft wurde, an einen Mann namens Khaled*. Von nun an musste Velly in seiner Autowaschanlage schuften.
Khaled schien der Anführer einer Milizgruppe zu sein. Die Autos, die Velly putzen musste waren umfunktioniert zu bewaffneten Fahrzeugen. Mehrere Menschen wurden vor Vellys Augen von Mitgliedern der Miliz ermordet.
Lohn bekam er keinen, lediglich Essen – und Prügel. Velly wurde regelmäßig von Khaled und seiner Familie misshandelt.
Als Khaleds Sohn Velly eines Tages so stark am Auge verletzte, dass er für längere Zeit nicht arbeiten konnte, wurde er zur Küste gebracht und gemeinsam mit zig anderen auf einem viel zu kleinen Boot aufs offene Meer geschickt: nach Italien.
Durch Menschenhandel nach Europa, von den österreichischen Behörden im Stich gelassen.
In Sizilien musste Velly auf einem Bauernhof arbeiten. Entlohnt wurde er dafür kaum.
Solche offensichtlichen Sklavereiverhältnisse sind in Europa, vor allem in der saisonalen Landwirtschaft, nicht selten.
Die Menschen- und Kinderhandelsketten enden nicht an den Außengrenzen Europas – doch schauen wir lieber weg.
Als er es nach Monaten schließlich schaffte, genug Geld für ein Zugticket nach Österreich anzusparen und die Grenze überquerte, stellte Velly hier als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UMF) einen Asylantrag.
Er wurde in eine Unterkunft in Oberösterreich gesteckt: Es gab keine zureichende Betreuung oder psychische Unterstützung, und er hatte keine Möglichkeit, die Schule zu besuchen.
Sein Obsorgeberechtigter war und ist seitdem der Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) – kurz: Das Jugendamt. Das Jugendamt hat die Pflicht, stets im Interesse ihrer Schutzbefohlenen zu handeln.
Doch das Jugendamt hat seine Pflicht aktiv verweigert!
Anstelle von psychologischer Betreuung wurde er wieder auf die Straße gedrängt: Diesmal durch Isolation.
Anstatt eine Schule besuchen zu dürfen, oder eine Ausbildung beginnen zu können, wurde er zum Nichtstun verdammt.
Anstatt in Vellys Interesse zu handeln, haben sie ihn “verloren”.
Und anstelle der Minimalanforderung, der Vertretung ihres minderjährigen Schutzbefohlenen in juristischen Belangen im Asylverfahren, verweigerte das zuständige Jugendamt jegliche Unterstützung.
Eine Beschwerde hätte im Fall von Velly, einem minderjährigen Menschenhandelsopfer, gute Erfolgsaussichten gehabt. Doch durch die Verweigerung der Obsorgeberechtigen, ein Rechtsmittel einzulegen, wurde der negative Bescheid rechtskräftig.
Velly war schutzlos und auf das Jugendamt angewiesen: Denn im Gegensatz zu volljährigen Geflüchteten können sich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ihre Rechtsvertretung nicht selbst aussuchen. Er war abhängig davon, dass seine Obsorgeberechtigten in seinem Interesse handeln. Dieses Abhängigkeitsverhältnis hat das Jugendamt auf das Widerlichste missbraucht.
Bald wird Velly 18. Ab diesem Zeitpunkt ist er nun auch juristisch auf sich alleine gestellt.
Doch wir lassen nicht zu, dass das Jugendamt damit davonkommt.
Wir lassen nicht zu, das Velly abgeschoben wird.
Wir publizieren diesen Fall, um Vellys Geschichte zu erzählen, aber auch im Wissen, dass er kein Einzelfall ist – und dass es ein Großteil der betroffenen Kinder nicht bis zu unserer Türe schaffen.
Velly bleibt!