SAMIR DARF BLEIBEN
Erleichterung in einer Vorarlberger Schule
Ein Bericht von Michael Genner, Asyl in Not
Samir ist 16 Jahre alt. Er lebt in einem kleinen Ort in Vorarlberg, geht dort in die UNESCO-Mittelschule und ist bei Schülern und Lehrern sehr beliebt. Zur Welt gekommen ist er in Tschetschenien. Als kleines Kind erlebte er den Krieg, die Flucht ins benachbarte Inguschetien, jahrelangen Lageraufenthalt, bis er mit seinen Eltern Anfang 2004 nach Österreich kam.
Aber damit war die Ungewißheit nicht zu Ende. Das Asylverfahren ist erst jetzt, im November 2011, zu einem glücklichen Ende gelangt.
Samirs Vater hatte im zweiten Tschetschenienkrieg (1999/2000) gegen die Russen gekämpft, war dann nach Inguschetien geflüchtet, von dort aus aber immer wieder nach Grosnyi gependelt, um sich an Partisanenaktionen gegen die Besatzungsmacht zu beteiligen. Unterwegs wurde er einmal verhaftet und gefoltert (2001), aber das war ein Zufall, die Russen wußten noch nicht, welche Rolle er im Widerstand spielte, und ließen ihn gegen Lösegeld wieder frei.
Er nahm weiterhin an Aktionen teil, bis es zu gefährlich wurde, da ein Mitglied seiner Gruppe nach dem anderen verhaftet worden war. Dann erst entschloß er sich zur Flucht. Sein Bruder, des sich standhaft weigerte, zu fliehen, wurde bald darauf umgebracht.
Im Asylverfahren in Österreich hat Samirs Vater zunächst nichts über seine Teilnahme am Krieg und am Widerstand erzählt, sondern lediglich seine Verhaftung und Folterung im Jahre 2001 (sowie später die Ermordung seines Bruders) geltend gemacht.
Wie viele andere tschetschenische Flüchtlinge mißtraute er dem Asylamt und befürchtete, seine Angaben würden den russischen Behörden weitergegeben. Was ja angesichts der „notorischen Kontakte zwischen dem österreichischen und dem russischen Innenministerium“ (so der Asylgerichtshof in einem anderen Verfahren) nicht ganz unverständlich ist…
Das Bundesasylamt wies seinen Antrag ab. Sein Vorbringen sei zwar glaubhaft, aber nicht ausreichend. Schließlich habe er weder vor noch nach der Festnahme im Jahre 2001 Probleme gehabt.
Er erhob dagegen Berufung; der UBAS schickte den Fall aus formalen Gründen an die Erstinstanz zurück, diese erließ wieder einen negativen Bescheid (2006). Auch diesmal hielt das Bundesasylamt fest, seine Angaben seien glaubhaft, eine gegenwärtige oder künftige Verfolgungsgefahr sei aber daraus nicht ableitbar.
Somit landete das Verfahren vor dem 2008 eingerichteten Asylgerichtshof, der im Juni und Oktober 2011 darüber verhandelte. Erst in diesem späten Stadium übernahm ich die Vertretung.
Ich sprach lange und eingehend mit Samirs Vater und seinen Angehörigen und erteilte ihm nach reiflicher Überlegung den Rat, sich zu seiner militärischen Tätigkeit zu bekennen. Es sei die einzige Chance. Die Verhaftung im Jahre 2001 habe schon bisher nicht ausgereicht und jetzt sei sie überhaupt schon viel zu lange her.
Zum Glück gab es auch einen, wenn auch indirekten, Zeugen: Vaha BANJAEV, Obmann der Vereinigung tschetschenischer Gefangener der Konzentrations/Filtrationslager.
Er verfügt über ein umfangreiches Archiv mit vielen tausenden Protokollen ehemaliger Häftlinge. Darunter eines, das vor vielen Jahren mit einem Kriegskameraden unseres Klienten aufgenommen worden war. Darin wurde Samirs Vater namentlich als Kämpfer erwähnt.
Dieses Protokoll legten wir in der Verhandlung im Juni 2011 vor. Zugleich gaben wir bekannt, wir würden nun das bisherige Vorbringen meines Mandanten um seine Teilnahme am Krieg und Widerstand erweitern.
Die beiden Richter Kanhäuser und Stracker waren darüber gar nicht erfreut. Sie zeigten uns den dicken Akt, den sie tagelang studiert hatten – und jetzt sollte alles ganz anders sein?
Die Verhandlung wurde vertagt; ich erhielt den Auftrag, binnen zwei Wochen einen vorbereitenden Schriftsatz zu erstellen. Darin zeigte ich Punkt für Punkt auf, daß die bisherigen Angaben alle stimmten, aber immer wieder an bestimmten Stellen etwas Wichtiges ausgelassen war, was dazu gehörte, dazu paßte und asylrelevant war.
Im Oktober ging es weiter; mittlerweile machte die Vorarlberger Zivilgesellschaft mobil: Samirs Klassenvorstand Hannes Lisch startete einen Aufruf, der von 200 Schülern und Lehrern unterschrieben wurde, und schickte ihn an den Asylgerichtshof. „Wir möchten, daß wir weiter zusammen spielen und zusammen lachen können“, schrieben Samirs Mitschüler. In den „Vorarlberger Nachrichten“ erschien ein ausführlicher Bericht.
Die zweite Verhandlung im Oktober verlief positiv. Samirs Vater schilderte ausführlich und detailreich die Kampfhandlungen, an denen er beteiligt war. Im November 2011 erhielten wir die positiven Erkenntnisse des Asylgerichtshofes zugestellt.
In der Begründung hielt der Asylgerichtshof fest, daß Samirs Vater einen „persönlich glaubwürdigen und authentischen Eindruck“ hinterlassen habe. Seine lebensnahen Schilderungen in Zusammenschau mit meinem vorbereitenden Schriftsatz und dem von Vaha Banjaev vorgelegten Protokoll seien plausibel und nachvollziehbar.
Samirs Vater hätte zwar eigentlich wegen seiner „Mitwirkungsobliegenheit“ schon vor dem Bundesasylamt alle Fluchtgründe erzählen müssen; „dessen ungeachtet ist der Asylgerichtshof aber in jeder Phase des Verfahrens im Lichte der Offizialmaxime zur amtswegigen Erforschung der materiellen Wahrheit angehalten.“ (Geschäftszahl D9 256771-7/2008/22E).
Eine wichtige Grundsatzentscheidung, über die wir uns freuen. Wir danken allen, die (mit unterschiedlichen Zugängen) zum guten Ausgang beigetragen haben:
von der Schulgemeinschaft in Vorarlberg, die die Solidarität organisierte, über Vaha Banjaev, der in seinem Dokumentationsarchiv das rettende Beweisstück fand, bis zu den Asylrichtern Kanhäuser und Stracker, die die richtige Entscheidung trafen.
Samir und die Seinen dürfen nun für immer in Österreich bleiben; wir wünschen ihnen auf ihrem weiteren Weg viel Glück.
Michael Genner,
Obmann von Asyl in Not
Spendenkonto:
Raiffeisen (BLZ 32000),
Kontonummer 5.943.139, Asyl in Not