Gedanken zum Anschlag – Politiken des Unsichtbarmachens

An diesem Jahrestag der Novemberpogrome stellen wir uns viele Fragen.

Seit Tagen beschäftigt uns die Frage, warum es in Österreich so einfach und so banal ist, die Aufmerksamkeit von den Opfern des Anschlags, der vor wenigen Tagen in der Seitenstettengasse begann, „dem Herz jüdischen Lebens“ und Zentrum der vermeintlichen Dekadenz dieser Stadt gleichermaßen, abzulenken.

Warum wurde nicht einen einzigen Tag lang der potentiell antisemitische Charakter dieses Angriffs, der einen Tag nach einem brutalen Überfall auf einen jungen jüdischen Mann stattfand, thematisiert?

Der Kanzler dieses Landes und sein Innenminister, imitieren die martialische Sprache teurer Hollywood-Actionfilme , und sprechen davon, einen Menschen „ausgeschaltet“ und „neutralisiert“ zu haben, weil sie nicht die Größe haben, der Bevölkerung in die Augen zu sehen und zu sagen: „Um weitere Tote zu verhindern, haben wir den Mann getötet.“.

Noch bevor wir der Opfer, der Toten dieses Anschlags gedenken konnten, wurde gemaßregelt, dass man im selben Atemzug auch vor dem nun ansteigenden antimuslimischen Rassismus warnen muss.  

Die simpelste Politik des Unsichtbarmachens geht in Österreich Mal für Mal auf. Heute wie damals:
Kristallnacht. Ein Wort, das durch den Verweis auf die Scherben, die Getöteten und die Zielscheiben auslöscht…

Der steigende Rassismus vor dem wir warnen müssen, bevor wir thematisieren dürfen, dass die zwei Helden von Gestern mit ihrem Heldensultan Erdoğan telefonieren, der betrifft Muslim_innen, die institutionell organisiert sind, erst mal nur indirekt.

Denn während die IGGiÖ (islamische Glaubensgemeinschaft)und bürgerliche Repräsentat*innengruppen muslimischer Menschen dort, wo es um sie geht, laut werden können, speziell gegen Linke, (ja, wir erinnern uns daran, dass ihr nicht mal beim diskriminierenden Islamgesetz gegen die Konservativen laut werden konntet), dort werden sie still, sobald es um die Urheber des Terrorismus, die breite Akzeptanz faschistischer und kriegsliebender Gruppen in den eigenen Reihen geht.  

Wer gegen Islamismus ist, muss gegen Erdoğan, gegen die türkische Angriffspolitik, gegen den Krieg gegen die Armenier_innen, gegen die Errichtung eines türkischen Kalifats in Rojava vorgehen.  Alles andere ist Augenauswischerei!

Selbstverständlich sind als Muslim_innen gelesene Menschen in Österreich von Rassismus betroffen. Aber es darf nicht sein, dass die Gruppe, die am lautesten schreit, die alleinige Aufmerksamkeit bekommt.

Die direkten und besonders Betroffenen des strukturellen Rassismus in Österreich in Folge dieses Anschlags werden aber vor allem andere sein. Ich möchte sie gerne laut und deutlich nennen, um gegen die Unsichtbarmachung vorzugehen:

  • Sichtbar jüdische Menschen
  • Tschetschen_innen, die selbst nach Jahrzehntelangem Asyl in Österreich von den Behörden bedroht werden
  • Schwarze Männer (gleich ihrer Herkunft, ihres akademischen Abschlusses, ihres sozialen Status, etc), die häufiger racial profiling ausgesetzt werden
  • Illegalisierte Migrant_innen und Geflüchtete, die immer die ersten Opfer der Law and Order-Politik sind.
  • Alle, deren Asylverfahren bis heute nicht abgeschlossen sind.

Und: linke, widerständige, selbstorganisierte, laute, migrantische Gruppen. (Oder glaubt wirklich jemand, dass eine Sicherungshaft in erster Linie gegen Nazis und Islamisten angewendet wird?) Dies sind nur die markantesten Beispiele, die uns aufgrund unserer täglichen Arbeit klar sind.

In diesem Land werden Tschetschen*innen politisch motiviert ermordet – seit Jahren versuchen Organisationen wie Ichkeria die Aufmerksamkeit der österreichischen Gesellschaft zu bekommen. Auf den Endsars-Demonstrationen gegen die brutale tyrannische Regierung Nigerias der vergangenen Wochen waren nicht-migrantische Gruppen und nicht-migrantische Linke abwesend.

Alle diese Stimmen brauchen Multiplikator_innen.

Der Rassismus und die Politik in Österreich betreffen alle diese Menschen in Österreich und sie brauchen all unsere Solidarität und Klarheit in der Sprache.

Ich habe ein Geständnis:
Manche von uns, mich eingeschlossen, hatten am Abend des Anschlags keine Angst. Wir hatten keine extreme Sorge, keine Panik, wir hatten nicht besonders viel Emotion zu zeigen.

Nicht, weil wir den Schrecken nicht teilen, sondern weil wir an ihn gewöhnt sind.

Wir verfolgen den IS und alle seine Ableger seit Jahren genau. Unsere Genoss_innen in der Türkei und Kurdistan, unsere Freund_innen in Afghanistan, in Syrien, alle Menschen, die so leben wie wir, freie Frauen* und Männer*, Minderheiten, Kommunist_innen und Atheist_innen – wir sind immer schon die Zielscheiben dieser Angriffe. Für uns ist das nicht der erste Angriff. Es ist der Zigste.

Diesmal haben sie Wien getroffen. Diesmal haben sie unsere Freund_innen hier in Angst und Schrecken versetzt.

Wir stehen weiterhin in Solidarität.

Lasst uns nicht vergessen, wer die Opfer und die Urheber des IS und der europäischen Politik sind! Wir lassen nicht zu, dass sie unsichtbar gemacht werden!

Kübra Atasoy,  Asyl in Not

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