Wen hassen sie am meisten? Ein Rückblick auf 40 Jahre
Als in Afghanistan die Mudjaheddin, unterstützt vom CIA, 1979 den heiligen Krieg gegen Russ*innen und Kommunist*innen begannen, war der erste, den sie umbrachten, wenn sie ein Dorf „befreit“ hatten, immer der Lehrer. Denn der hatte den Kindern (den Mädchen sogar!) beigebracht, zu lesen, zu hören und vor allem: zu denken statt zu glauben.
Afghanistan ist dann in der Finsternis versunken, jahrzehntelang. Die Frauen verloren alle Rechte, die sie vorher hatten. Sie mussten sich perversen Moralbegriffen unterwerfen und wurden zu Sklavinnen der Männer gemacht.
Viele aus Afghanistan geflüchtete Menschen habe ich in ihren Asylverfahren beraten und vertreten. Zuerst die Kommunist*innen, die von den Mudjaheddin verfolgt wurden. Dann die Mudjaheddin, als 1996 statt ihnen die noch schrecklicheren (und ebenfalls vom CIA geförderten) Taliban ans Ruder gekommen waren…
Kommunist*innen (unter ihnen viele Frauen) und Mudjaheddin sind dann manchmal nebeneinander in meinem kleinen Wartezimmer gesessen. Ein alter Kommandant der Hazara, einer von den Taliban massakrierten Volksgruppe, gestand mir damals, er sei jetzt auch schon der Meinung, dass er lieber nicht gegen die Kommunist*innen hätte kämpfen sollen; dass es der größte Fehler seines Lebens war.
Aber vor allem waren und sind es die Frauen, für die mein Verein Asyl in Not und ich kämpfen, deren Rechte und Interessen wir sowohl gegen die Willkür beamteter Schreibtischtäter*innen als auch, oft genug, gegen ihre Männer, ihre Väter, Brüder, Schwiegermütter zu verteidigen wissen.
Dass afghanische Frauen, die sich nicht den Vorschriften der Religion und der Familie unterwerfen wollen, als „soziale Gruppe“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden und Asyl erhalten, war und ist in all den Jahrzehnten unser größter und schönster Erfolg.
Heute wie eh und je sind die Frauen und die Lehrer den Djihadisten besonders verhasst. In Afghanistan, in Frankreich, in Österreich und überall.
Um Missverständnisse zu vermeiden: die katholischen und evangelikalen Abtreibungsgegner*innen und sonstigen Kreuzzügler*innen jeder Art sind genauso verabscheuungswürdig und mit gleicher Entschlossenheit und Härte zu bekämpfen. Manchmal müssen wir halt mehrere Sachen gleichzeitig tun…
Umso mehr freue ich mich über jede Initiative junger Menschen verschiedenster Herkunft, die sich losmachen wollen von den Zwängen der Familie und der Religion. Solange ich lebe, werde ich an ihrer Seite stehen.
Michael Genner
Obmann von Asyl in Not
Mitgründer von Spartakus